Mythen

 

Laut -> Wikipedia hat das Wort Mythos seinen Ursprung im Altgriechischen und bezeichnet u.a. Erzählungen, sagenhafte Geschichten, Märchen. Interessanterweise halten sich in Lern- und Lern-Ratgebern hartnäckig einige überholte bzw. längst widerlegte Grundsätze über viele Jahrzehnte. Erfolgstitel wie "Denken, Lernen, Vergessen" von Frederic Vester (s.u.) erscheinen fast unverändert in immer neuen Auflagen. Dabei wäre eine regelmäßige Überarbeitung und Anpassung an die schnell voranschreitenden, wissenschaftlichen Erkenntnisse dringend angezeigt.

Da ist zum Beispiel von der "Synchronisation der beiden Hirnhälften" oder von der "Dominanz der rationalen, linken Seite" die Rede. Auch für die Feststellung des individuellen Lerntyps eines Lernenden, z.B. durch einschlägige Tests, wird geworben. Wir möchten auf dieser Seite einige dieser - zumeist in bester Absicht - verbreiteten Mythen beleuchten und kritisch hinterfragen.

 

Die Leser dieser Zeilen sind hiermit eingeladen, weitere wissenschafltiche Quellen, Studien oder Metastudien zu benennen. Selbstverständlich auch solche, die zu ganz anderen oder sogar gegensätzlichen Schlussfolgerungen führen.

 

Autor: Gerold Kalter

 

Mr. Links und Mr. Rechts
Der Klassiker: Längst überholt und doch immer wieder gern genommen

Vera F. Birkenbihl hat sich bereits Ende der 90er Jahre von der – auch von ihr - über lange Zeit verbreiteten Links-Rechts-Unterscheidung der beiden Hirnhälften verabschiedet. Leider ist sie aber bei der stetigen Aktualisierung ihrer Bücher nicht ganz konsequent vorgegangen. Denn auch in der 54. Auflage von „Stroh im Kopf“ (2009) benutzt sie im Kapitel „Parallel-Lernen“ auf S. 172 bzw. im Anhang ab S. 281 das längst überholte Konzept weiter als "Denk-Modell". Die eher unauffällige Kennzeichnung als Metahper kann dabei leicht überlesen werden.

 

Das Hemisphärenmodell (1)(2) ging davon aus, dass beide Gehirnhälften grundsätzlich unterschiedlich und weitgehend unabhängig voneinander arbeiten. Während in der linken Hälfte die verbalen, rationalen, analytischen, zeitlichen, linearen und logischen Prozesse stattfänden übernähme die rechte Hälfte die ganzheitlichen, bildhaften, musischen, kreativen, intuitiven, zeitlosen, räumlichen, emotionalen und körperorientierten Aufgaben. Obwohl sich mit diesem Modell viele grundsätzliche Prozesse des Lernens lebendig und bildhaft illustrieren lassen, entspicht es nicht den tatsächlichen, neurobiologischen Vorgängen.

 

Abgeleitet wurden diese Erkenntnisse aus der Tatsache, dass die beiden Hirnhälften neben leichten, anatomischen Asymmetrien auch klare, funktionale Unterschiede aufweisen. So sind bei fast allen Menschen die Sprachzentren (Brocca- und Wernicke- Areal) in der linken Gehirnhälfte angesiedelt. Wir müssen uns dabei aber vor Augen halten, dass die menschliche Sprachentwicklung gerade einmal 100.000 Jahre "jung" ist. Im Vergleich zur Entwicklung des Neocortex bei der Abspaltung des Homo Sapiens vor zwei bis drei Millionen Jahren ein vergleichsweise kurzer Zeitraum (3). Beim Sprechen und in der Folge auch dem Schreiben und Lesen handelt es sich also um junge und, im ansonsten vollständig symmetrisch ausgebildeten Gehirn, nachträglich entwickelte Bereiche. Und weitere sprachliche Regionen, die für das Formen von Begriffen (Visual Word Forming Area) zuständig sind, werden sowohl in der linken als auch in der rechten Seite des visuellen Cortex ausgebildet. (4)

 

Auf die Frage: "Linke und rechte Gehirnhäflte - unterschiedliche Welten", schreibt Prof. Onur Güntürkün (5): "Leider gibt es darüber hinaus extremen Wildwuchs. Da heißt es dann zum Beispiel, die linke Hemisphäre sei fürs analytische, die rechte fürs ganzheitliche Denken da. Das ist aber eine neurowissenschaftlich schlicht falsche Verallgemeinerung..."

 

In der Zeitschrift Psychologie Heute, vom November 2009 (6), räumt Dr. Nicole Becker, Forscherin an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen, ebenfalls mit verschiedenen Standard-Mythen auf, die leider allzu oft von Ratgebern in Sachen „hirn-gerechtes Lernen“ ins Feld geführt werden: Der Aufgabenteilung der Gehirnhälften, den brachliegenden Hirnkapazitäten und dem typgerechten Lernen. Zur angeblichen Rollenverteilung der Hemisphären schreibt sie:

 

„Doch weder für die strikte Aufgabenteilung des Gehirns noch für das angebliche Grundproblem der „gestörten Hemisphärenintegration" lassen sich gesicherte, neurowissenschaftliche Belege finden. Zwar besteht das Gehirn aus zwei Hemisphären, doch deren Aufgabenteilung ist bei weitem nicht so strikt, wie sie in den „Brain"-Ratgebern dargestellt wird. ...Ein Großteil derjenigen Zentren, die für Sprachverarbeitung und Sprachproduktion zuständig sind, befindet sich bei den meisten Menschen in der linken Hirnhälfte. Das bedeutet allerdings nicht, dass die rechte Hirnhälfte an sprachlichen Prozessen gänzlich unbeteiligt wäre. Für Sprache gilt, was auch für emotionale und kreative Leistungen zutrifft: An komplexen Aufgaben haben stets beide Hirnhälften Anteil. Daher ist es auch falsch, Emotionen und Kreativität als Domänen der rechten Hirnhälfte zu betrachten.“

 

(1) -> Wikipedia: Das Hemisphärenmodell
(2) -> Günter Haffelder: Das Hemisphärenmodell

(3) -> Wikipedia: Kortikalisierung

(4) -> Stanislas Dehaene, Ph.D.: How Literacy Transforms the Human Brain

(5) -> Onur Güntürkün: Linke und rechte Hirnhälfte - verschiedene Welten?

(6) Prof. Nicole Becker: Psychologie Heute 11/2009 - Hirngespinste der Pädagogik

 

Lerntypen

 

Das Konzept der vier unterschiedlichen Lerntypen stammt von Frederic Vester, der diese erstmals 1975 in seinem populären Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ (1) beschrieben hat. Lernende sollen sich damit einer von vier Kategorien von Lerntypen (Engl.: learning styles) zuordnen lassen.

 

Neben den vornehmlich visuell oder überwiegend auditiv geprägten Lernenden soll es außerdem vorzugsweise haptisch oder auch analytisch-intellektuell Lernende geben. Zum Veröffentlichungszeitpunkt gab es jedoch keine Studie, aus der sich diese Erkenntnisse ableiten oder untermauern ließen. Auch in den Folgejahren konnte Vesters Systematik nicht durch Untersuchungen bestätigt werden, die wissenschaftlichen Maßstäben genügen würden. Vesters Kategorisierungsansatz wurde zum Gegenstand kritischer Betrachtungen (2) und auch die Metastudie der amerikanischen Wissenschaftler Pashler, McDaniel, Rohrer und Bjork aus dem Jahr 2009 (3) fand keine Bestätigung für Vesters Aussagen. Trotz dieser Kritik scheint das Konzept der Lerntypen in Schulen immer noch recht populär zu sein und sich hartnäckig in der Ratgeber-Literatur zu halten.

 

Auszug aus der Zusammenfassung der Metastudie von Pahler, McDaniel, Rohrer, Bjork:

„Unsere Untersuchung des Lerntypen-Konzeptes führte uns dazu, wissenschaftliche Nachweise zu finden, die für eine sicher reproduzierbare Anwendung von Lerntyp-Bewertungen innerhalb von Unterrichtssituationen erforderlich sind. Wie bereits beschrieben, hat unsere Suche in der Literatur zu den Lerntypen nur wenige fragmentarische und nicht überzeugende Belege ergeben, die diesem Standard entsprechen, und wir kommen daher zu dem Schluss, dass die Literatur keine angemessene Unterstützung für die Anwendung von Lerntyp-Bewertungen in Schulsituationen bietet. Darüber hinaus fanden mehrere Studien, in denen geeignete Forschungsdesigns verwendet wurden, Beweise, die der Hypothese von der Lerntypen widersprechen (Massa & Mayer, 2006; Constantinidou & Baker, 2002).

 

Für die Pädagogik heißt das: Lehrer sollten Schülern nicht nur Wissen über die Sinneskanäle vermitteln, die die Schüler vermeintlich bevorzugen. Sie sollten ihnen Wissen über alle Sinne näherbringen: also beispielsweise die Kinder zu einem Thema etwas lesen lassen, ihnen aber auch Bilder und Videos zeigen und sie selbst Experimente machen lassen.

 

Die Professorin Nicole Becker zieht in www.dasgehirn.info folgendes Resumeé:

 

"Was allerdings in der Psychologie recht gut untersucht ist, sind so genannte kognitive Stile, manchmal auch Lernstile genannt. Dabei geht es um individuelle Strategien, auf die Menschen zurückgreifen, um Probleme zu lösen oder mit Informationen umzugehen. Diese Stile scheint es zu geben. Bei den Lerntypen hingegen geht es um bevorzugte Wahrnehmungs– und Präsentationsweisen des Gehirns. Und für die gibt es eben keine Belege. Für die Pädagogik heißt das: Lehrer sollten Schülern nicht nur Wissen über die Sinneskanäle vermitteln, die die Schüler vermeintlich bevorzugen. Sie sollten ihnen Wissen über alle Sinne näherbringen..."

 

(1) Vester, Frederic (1975): Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann läßt es uns im Stich? -> Link zur Website des Autors

(2) Ulrike Quast "Lernermerkmale, Lernertypen, Lernverhalten“, Verlag Peter Lang

(3) -> Studie im Wortlaut als PDF in Englisch
(4) -> Frage an das Gehirn: Gibt es verschieden Lerntypen?